Von Gilgamesch bis Lehman Brothers

By PETER VOGT, published in Süddeutsche Zeitung in 28-02-2012

Die Zähmung gefährlicher Leidenschaften. Von Gilgamesch bis Lehman Brothers: Tomas Sedlácek erzählt eine Ideen- und Kulturgeschichte der Ökonomie – und sucht dabei nach Archetypen wirtschaftlichen Handelns.

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In seinem 1865 erschienenen Essay „Auguste Comte and Positivism“ bemerkte der englische Ökonom und Philosoph John Stuart Mill beiläufig, „eine Person, die nichts anderes sei als ein Ökonom, sei wahrscheinlich kein guter Ökonom“. Der Ökonom, so wollte Mill wohl verdeutlichen, bedu?rfe einer umfassenden Bildung, weil anders ökonomisches Geschehen, welches sich stets vor dem Horizont einer die Wirtschaft umspannenden Kultur und Gesellschaft ereignet, gar nicht begriffen werden könne. Fu?r diese Einsicht, die Mill in der erwähnten Passage mehr im Sinne einer fu?r den einzelnen Wissenschaftler unverzichtbaren Qualifikation umschrieb, wird in der zeitgenössischen Wirtschaftssoziologie heute zumeist der Begriff der „Einbettung“ verwendet. Wirtschaft ist demnach immer „eingebettet“ in kulturelles und soziales Geschehen. Nicht sehr viel anderes du?rfte auch gemeint gewesen sein, als zunächst in der schottischen Aufklärung und später bei Marx von „politischer Ökonomie“ die Rede war. Aber die neueren Ansätze der Wirtschaftssoziologie zeichnet aus, dass sie sich von der These einer grundsätzlichen Einbettung von Wirtschaft in Geschichte und Gesellschaft gerade nicht zu einer Rehabilitierung des Marxismus drängen lassen. Als zu haltlos haben sich dessen im engeren Sinne ökonomische Prognosen erwiesen, etwa diejenige vom tendenziellen Fall der Profitrate, als zu theoretisch trivial das Basis-Überbau- Schema. Wirtschaft sozialwissenschaftlich und historisch zu verstehen, ohne marxistisch zu denken: Dieser grundsätzlichen Ambition folgt auch das Buch des tschechischen Ökonomen und Publizisten Tomás Sedlácek, welches 2009 im Tschechischen erschien und nun unter dem Titel „Die Ökonomie von Gut und Böse“ im Deutschen vorliegt. Sedlácek entnimmt der These einer grundsätzlichen Einbettung der Wirtschaft in Gesellschaft, Geschichte und Kultur indes noch eine weitere Konsequenz, und das ist das eigentlich Interessante und Innovative an seinem Buch: Wenn sich Wirtschaft wirklich nur historisch erklären lässt, dann muss Wirtschaft, wie jedes andere historische Phänomen auch, erzählt werden, um erklärt werden zu können. So erzählt also Sedlácek dem Leser seines Buchs eine Geschichte, eine Ideen- und Kulturgeschichte der Ökonomievom Gilgamesch-Epos bis zur aktuellen Schulden- und Finanzmarktkrise. Sein Metier, das Metier der Erzählung, u?bt Sedlácek dabei nicht ohne Könnerschaft aus. Der kurzweilige Duktus, der Humor, der Pointenreichtum seiner Ausfu?hrungen bezeugen dies nachdru?cklich. So illustriert er etwa seine Überlegungen zu der Frage, wann und weshalb es dazu kam, dass sich die Wirtschaftswissenschaft als eine vorrangig mathematisch zu betreibende Disziplin begriff, mit einem naheliegenden und doch verblu?ffenden Hinweis auf die Textgestalt dreier Klassiker der Ökonomiegeschichte: Zwei der fru?hesten Standardbu?cher der Ökonomie, Adam Smiths „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ aus dem 18. Jahrhundert und John Stuart Mills „Principles of Political Economy“ aus dem 19. Jahrhundert, enthalten nicht eine grafische Darstellung oder mathematische Gleichung. Paul Samuelsons erstmals 1948 erschienener Klassiker „Economics“ hingegen, sicherlich das Lehrbuch derWirtschaftswissenschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, enthält auf fast jeder Doppelseite eine Abbildung, Gleichung oder Tabelle. Wie entstand dieser Mathematikneid der Wirtschaftswissenschaften, dieser Glaube, die ökonomische Wirklichkeit fu?ge sich geradezu vollständig einer mathematischen Modellierung? Liegen die Ursachen dafu?r in theoretischen Entwicklungen der Disziplin selbst oder spielten Motive wie die Aussicht auf öffentliche Anerkennung und Reputationsgewinn die entscheidende Rolle? Neben dem genannten Hinweis auf ein Phänomen, welches man gleichsam als den Stilwandel des ökonomischen Denkens bezeichnen könnte, hätte man von Sedlácek zu diesen Fragen gerne mehr erfahren, gerade weil seine Ausfu?hrungen hier einer die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften bis heute maßgeblich prägenden Weichenstellung auf der Spur sind. Ebenfalls hätte man von Sedlácek gerne mehr daru?ber erfahren, was denn mit der im Titel des Buchs angedeuteten These gemeint sein kann, die Erzählung von Wirtschaft mu?nde stets in eine Geschichte „von Gut und Böse“. Das klingt beim ersten Hören entweder mysteriös oder nach einem wirtschaftsethischen Postulat. Indes, eine durchaus plausible Möglichkeit, dieser rätselhaften Formulierung einen u?berzeugenden Sinn zu entnehmen, hätte sich fu?r Sedlácek angeboten, wenn er die These des Sozialwissenschaftlers und Ökonomen Albert O. Hirschman beru?cksichtigt hätte, wonach der im eigentlichen Sinne ökonomischen Begru?ndung des Kapitalismus bei Adam Smith eine politische Begru?ndung vorangeht, welche auf die politisch empfehlenswerten, weil gefährliche Leidenschaften zähmenden Wirkungen des „doux commerce“ verweist. Leider aber diskutiert Sedlácek in seinem Buch das Werk von Hirschman nur am Rande, obwohl dessen Schriften fu?r die angestrebte Ideenund Kulturgeschichte des Ökonomischen doch so reichhaltige Anregungen enthalten wu?rden. Wie dem auch sei, diewesentlicheKritik an Sedláceks Buchmuss sich ohnehin auf einen anderen Punkt beziehen: Aufgrund der erwähnten methodischen Überzeugung glaubt Sedlácek die Geschichte der Wirtschaft und die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft erzählen zu mu?ssen. So weit, so gut. Aber die Erzählung, die Sedlácek dem Leser bietet, fördert nun gerade keine historischen Erklärungen zu Tage. Das Band zwischen narrativem Verfahren und historischer Erklärung wird nämlich durchtrennt, wenn die erzählte Geschichte, wie dies bei Sedlácek der Fall ist, in bewusstem Anschluss an C. G. Jung einer Suche nach „Archetypen“ wirtschaftlicher Interaktionen verpflichtet ist. Eine derartige Suche nach den Archetypen wirtschaftlichen Handelns verfu?hrt Sedlácek immer wieder zu einer Reihe von historisch äußerst fragwu?rdigen Hypothesen: Im Gilgamesch-Epos entdeckt er den „Keim“ von Smiths Formel einer „unsichtbaren Hand“. In Josephs Ratschlägen an den Pharao erkennt er „eindeutig die spätere keynesianische antizyklische Fiskalpolitik“. In Hesiods Werk erblickt er den „Archetypus der menschlichen Arbeit“. Xenophon schrieb angeblich die „ersten Lehrbu?cher fu?r Mikro- und Makroökonomie“.